Die stille Donau-R. G. Fischer Verlag-Frankfurt/Main-1994, ISBN 3-89501-056-1

Meistens dürstet einen Fremden in dieser Stadt nach dem Anblick des hiesigen, durchaus weltweit berühmten Flusses. Es klingt bereits seit den Kindesjahren in den Ohren des Fremden, das unvergeßliche "Donau so blau, so blau, so blau..." Der Straußsche Walzer betrog die Generation, die in der Weite von Östereichs Haupstadt heranwuchsen. Er betrog sie, denn man sucht vergeblich das berühmte besungene Blau des Flusses, man sucht es vergeblich, obwohl man es verzweifelt sucht. Man möchte, ja man seht sich danach, entlang des Ufers dieses angeblich blauen Flusses zu wandern. "Donau so blaaaau" sangen doch in den Jünlingsjahren der Herr Papa und, wen der Fremde, der jetzt die donau entlangschlemdet, in seinen jungen Jahren Glück gehabt hat, auch der Herr Großvater vor, der alte, gemütliche Herr, der einzige, welcher dem Fremden in seinen jungen Jahren alles, aber wirklich alles erlaubte, also sie alle sangen "Donau so blaaaau" vor, wenn es zu Hause mit den Weibern keinen Streitgab, was ohnehin am seltensten der Fall war. Der Fremde ist daher gegenwärtig verständlichenweise verzweifelt, weil sie damals so oft besungene Donau - wie er jetzt feststelt - viel mehr silbergrau, wenn nicht gerade metallic oder direkt bleifarben ist, und die Fremde steht ratlos vor dem Fluß, denn er sieht sich außerstande, die Farbe dieses Flusses, den seine Familie mit grenzenloser Sehntsucht, lebenslang, besungen hat, zu bestimmen. Jene Ratlosigkeit steigert sich ins Unermeßliche, als der Fremde sich der Tatsache bewußt wird, daß er nicht einmal definieren kann, im welche Richtung letztendlich die Wasser der Donau fließen. Vor Wiener Kahlenberg, dem höchsten Beobachtungspunkt der Gegend aus betrachtet, scheint der Fluß zu stehen. Sollte der Fremde das Vermächtnis seiner Ahnen erfüllen wollen, wie es ihr ausdrücklicher Wille war, und deswegen dem Fluß im Namen seiner Verstorbenen, im Namen seiner Familie, die eigentlich keine Familie mehr ist, weil die Zeit sie sterben ließ, seine Hand entgegenstrecken, um ihm zu begrüßen, damm würde ihn unverzüglich die Ungewißheit befallen, ob er seine Hand nach links oder rechts der Donau entgegenstrecken soll, weil er einfach nicht erkennt - er ist außerstande es zu erkennen -, ob der Fluß nach rechts oder eigentlich nach links fließt. Ist diese Donau zum Schlus ein stehender Fluß? Ein Flus bedeutet ja Bewegung, und wenn schon eine Bewegung, dann eigentlich was für eine Bewegung und weshalb - wie jetzt - gar keine Bewegung? Der Fremde besorgt sich einen Stadtplan, betrachtet äußerst angestrengt - ja man sieht sogar die ersten Schweißperlen auf seiner Strin - die Striche auf die Karte, welche ihm die Stadt Wien vergegenwärtigen sollen, und trotz allergrößter Anstrengung kann er nicht ekrennen, in welche Himmelsrichtung die Donau eigentlich ihren Schmutzinhalt treibt. Der Fremde ist aber schlau, er muß schlau sein, denn er kommt aus dem Osten Europas, und jeder, der von dort nach Wien kommt, muß schlau sein, denn sonst wäre er keinesfalls hierhergekommen, er hätte es ohne Schlauheit einfach nicht geschafft, ("Hurra!") er atmet auf. Der Fluß lebt doch! Das Holz beginnt sich nämlich zu bewegen! Anfangs dreht es Schwung und bewegt sich gemächlich, aber immerhin nach Nordosten (oder müßte man richtigerweise die Richtung, in die der Fluß sich bewegt, als Osten bezeichnen?), und wenn der Fremde sich ausmalt, daß dort, in der Richtung, wohin das Stück Holz steuert, Bratislava, später Budapest, danach Boegrad samt allen balkanischen leidenschaftlichen Reizen liegen, bleibt das besagte, ja das plötzlich von dem Fremden verdammte Stück Holz überraschend stehen. Es bewegt sich einfach nicht meht! Es steht! Und in diesem Moment beginnt der Fremde mit sich selber einen inneren Kampf auszutragen, weil seine angeblich blaue, schöne Donau weder blau noch schön, dafür aber träge und still ist, was er am wenigsten erwartete und was keinesfalls in seine Vorstellungswelt paßt. Es übermannt ihn das in der Schule Gelernte, das in den Mannesjahren Gelesene, das im modernen Fernsehen immer wieder Erlebte, die unendliche Fülle der Fakten, welche er über diese schöne, angeblich blaue, nunmehr, wie er sieht, keinenfals blaue, dafür aber stille Donau studiert und gehört hat, und er flüstert vor sich hin: "Hat sich nicht das Schicksal Europas gerade an diesem angeblich stets vieles, wenn nicht alles bewegenden Fluß unzählige Male entschieden, und haben sich nicht die Geschicke der Völker vollendet...?" Das Holz, das Stück Holz, welches der Fremde soeben ins Wasse warf - er warf es, weil er die Richtung des Flusses definieren wollte -, steht noch immer - es bewegt sich einfach nicht - auf dem gleichen Platz. Der Fremde dreht, in unerwartetem Überdruß, diesem Fluß seine Gedanken zu widmen - es ist, wie ihm jetzt scheint, zwecklos -, also er dreht der Donau seinen Rücken zu und sinniert resignierend: "Alles, was man mich gelehrt, ist offensichtlich falsch. Die Donnau ist keinesfalls blau, sie ist statt dessen träge und still."

 

 

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